Dr. Horst Müller wurde 1929 in Kassel geboren, studierte in Freiburg und Göttingen und war nach Staatsexamen und Promotion Lehrer an der Herderschule, der Deutschen Schule Istanbul und dem Kasseler Wilhelmsgymnasium. Nach seinem Schuldienst gründete er 1991 an der Gesamthochschule das Studententheater, das er bis 1998 leitete. Unter seiner Regie wurden neun Stücke inszeniert, darunter Millers „Hexenjagd“ (1993), Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ (1995) oder Kleists „Die Familie Schroffenstein“ (1998). In seinem Buch „Studenten und Theater“ lässt er seine Arbeit Revue passieren.
Herr Dr. Müller, wie sind Ihnen Studenten begegnet?
Studenten sind mir begegnet als Leute, die Lust hatten oder zumindest die Neugierde besaßen, vielleicht Theater zu spielen. Das Vielleicht muss gesagt werden – das allgemeine Interesse galt zunächst einem „Mal gucken“. Das ist selbst schon ein bisschen konstituierend für die Studenten, dass man überall sich umtut. Wobei das im Grunde immer schon so gewesen ist, besonders am Anfang des Studiums. Zuerst hieß es also, wir möchten eigentlich Theater spielen, wir wollen aber erstmal gucken, wir wissen ja nicht, worum es sich handelt, wir möchten aber unbedingt, aber wir müssen nicht! Das heißt, wenn der Ton der Regie zu früh fordernd war, dann prallten viele schon wieder zurück. Ich habe das aber bei den meisten mit Überredung, nicht mit Kommandieren geschafft. Als Schultheaterregiesseur konnte ich mir auch schon mal einen Kommandoton leisten. Das durfte ich nicht bei den Studenten. Die bestanden auf ihrer studentischen Eigenständigkeit und Freiheit.
Sie erwähnen, dass häufig Studenten zu Ihnen kamen, bei denen bisherige Vorhaben aufgrund dieser sogenannten Freiheit gescheitert sind.
Richtig, ja. Das ist sehr häufig gewesen, dass Grüppchen von Leuten zu mir kamen, die schon vorher diese oder jene Initiative ergriffen hatten und bei denen es immer wieder daran gescheitert ist, dass es zu demokratisch zuging, dass sie vergessen haben, dass sie eine Lenkung brauchten. Und zwar eine, die letztlich, wenn auch versteckt, im Grunde ein bisschen autoritär sein muss.
Mit Ihrer Auffassung von Theaterarbeit als „Bemühung um Kunst“ positionieren Sie sich gegenüber einer Auffassung, die Sie als „Theater light“ charakterisieren. Gegen welche Einstellung richten Sie sich?
Gegen die Einstellung, die mit dem wahnsinnig abgenutzten Wort „Spaß“, dem „Spaß haben wollen“, zusammenhängt. Gegen diese Einstellung richte ich mich, indem ich sage, Spaß steht zwar am Ende oder begleitet das Ganze, aber nicht ohne Mühe. Und erst wenn genügend Mühe aufgewendet wurde, dass eine Gestalt entsteht, kann dieser Spaß gelten. Und nicht bloß ein läppisches Tralala und hinterher gehen wir einen Saufen. – Das haben wir sehr oft getan! Aber das darf nicht zur Hauptsache werden. „To have good fun“ ist zu wenig. Es muss angespannte Arbeit geleistet werden, damit man auch einen Wert dabei empfindet.
Im Theaterspiel kommt der menschliche Trieb zur Nachahmung zur Geltung.
Natürlich, also das ist sozusagen der kindliche Zug, der schon sehr früh beginnt und sich immer ein bisschen erhält; dass ist der Spieltrieb, der Theatertrieb. Denn das Theater beruht ja auf dem, was Menschen sonst tun im Leben, es ahmt Leben nach. So wie es früher noch ungeniert hieß, die Bildende Kunst ahmt die Natur nach. Im Grunde genommen ist es eine Antwort auf das, was vorhanden ist, auf die bestehenden Weltverhältnisse, die man gewissermaßen dort, wo sie interessant genug sind, im Spiel nachahmt.
Nachahmung ist es zum einen, zum anderen ist es Übersteigerung. Die Natur wird durch übersteigerte Natürlichkeit erkennbar.
Ja, überpointieren, „überbieten“ sagt der Ästhetiker.
Auf welche Weise trägt das Theaterspielen zur Persönlichkeitsentwicklung bei?
Durch den Zugewinn von Selbstbewusstsein, dass einem zugehört wird; auch der Gewinn aus der Erfahrung, entgegen der Hemmungen, die man hat, mit diesen Hemmungen fertig zu werden; nicht nur lernt, was zu lernen ist, sondern es auch zur Wirkung bringt – und damit hat man ja schon wieder einen ordentlichen Schritt in die Selbstsicherheit hinein getan.
Sie schreiben, dass es zur Entfaltung der ästhetischen Wirkung in jedem Vorgang eines Steigerns und Überbietens bedarf. Was meint das?
Das wird schon in der Sprechweise im Schauspiel deutlich, die sich abhebt von der, wie es der Existenzphilosoph sagt, „durchschnittlichen Alltäglichkeit des miteinander Redens“ und die bewusster Pflege bedarf: laut-leise, langsam-schnell, hoch-tief, stockend oder fließend. Es gibt ganz viele Nuancen, die als Bedeutungsakzente bewusst herauszubringen sind, um auffällig zu werden. Und das gilt dann auch für jede Geste, die wohl überlegt bzw. ausprobiert sein will, für jede Haltung, die eingenommen wird. Sie darf nicht starr aber auch nicht hyperaktiv wirken; darf kein Überagieren sein. Alles muss kontrolliert ablaufen und gleichzeitig so, dass man sagt, „das muss dorthin“. Es muss sauber gesprochen werden, ausdrucksvoll, es muss viel geübt und geschult werden, damit keine Silben verschluckt werden, damit die Sprache ihren Sinnakzent herausbringt. Daraus resultiert eine leichte Unnatürlichkeit des Sprechens, eine leichte Überbietung des normalen Sprechens.
Sie beschreiben die Probearbeiten zu Kleists „Die Familie Schroffenstein“. Eine Passage sollte im Durchlauf gespielt werden. Das hieß für Sie, Zurückhaltung wahren. Nicht kritisieren, neue Ideen nicht äußern; nur betrachten, und möglichst alle Einzelheiten wahrnehmen.
Das ist für mich bei der Regie immer das Allerschwerste gewesen. Weil ich nämlich ständig kleine Ideen hatte bzw. auch kritische Beobachtungen machte, die hätte ich mir notieren müssen, denn sonst gehen die sofort im Fortlauf verloren. Man muss sich dann auf sein Gedächtnis verlassen. Alles behält man nicht – muss man aber auch nicht.
Es kam zwischendurch immer wieder dazu, dass selbstkritisch inne gehalten wurde, so dass für die Passage 45 statt 30 Min. benötigt wurden. Die Schauspieler kamen schließlich selbst auf die Idee, die Passage zu wiederholen. Ich habe mich gefragt, welche Norminstanz es gewesen sein mag, die dieser selbstkritischen Reflexion vorstand. Kann es sein, dass Sie als Regisseur soweit verinnerlicht wurden, dass Sie als Gewissen, als eine Art Über-Ich fungierten?
Also wenn ich sie da dann schon genug geknetet hatte, könnte es so sein. Auf diesen Gedanken in dieser Form bin ich noch nicht gekommen. Aber es ist trotzdem richtig. Denn manchmal ist ja auch was richtig, was nicht von mir ist (lacht).
Herr Dr. Müller, vielen Dank für das Gespräch!