
Foto: Winkelkötter
Von Simon Winkelkötter
Der ehemalige ARM-Chef Ralph Raabe spricht über Eröffnung und Schließung des Clubs ARM und erklärt, warum Kassel in seinen Augen kulturell im Rückwärtsgang ist.
Nach 21 Jahren hat Kassels legendäres Feiergelände, das ARM (steht für: Arbeitskreis Rhythmussuchender Menschen), Anfang 2019 die Pforten geschlossen. Als ich Chef und Gründer Ralph Raabe (Jahrgang 1967) fragte, wie es dazu kam, antwortete er anfangs lediglich mit einem zehnminütigen, schweigsamen Spaziergang durch den Raum. Doch statt mir den bereits bekannten Monolog von überteuerten Umbauten und undurchsichtigen Architekturplänen herunterzubeten, nahm mich Raabe mit auf eine Reise durch 30 Jahre Nachtleben in Kassel.
Im Documenta-Sommer 1997 hat das ARM eröffnet. Was war die Vision?
Es ging vor allem darum, in einer immer enger werdenden Welt, Freiräume zu gestalten. Egal, ob für Kunst, Musik oder einfach Menschen, die sich aus unterschiedlichsten Hintergründen über den Weg laufen und friedlich miteinander feiern konnten. Das ganze wurde ein Begegnungskunstwerk. Wir haben Raum für so vieles geschaffen: Clubnächte, Konzerte, Kunstausstellungen bis hin zu einer Historienschau zum Thema ‚Zweiter Weltkrieg’, bei der wir Fotoaufnahmen der Stadt von vor und nach dem Krieg ausgestellt haben, die mit der gleichen Kamera aufgenommen wurden. Vor dem ARM haben wir allerdings ja erst einmal 1991 die MUTTER als Punk-Rockkneipe eröffnet. Wir standen in jenem Sommer vor dem Fes, wo immer die gleiche Musik lief und die gleichen Leute saßen. Und aus dieser Laune heraus kam der Gedanke: „Machen wir `ne Kneipe auf“. Als ich damals mit der MUTTER anfing, sagten mir alle Leute noch ich sei verrückt und würde das nie schaffen. Und schon wurde aus einer Laune ein Protestgedanke. Gerade weil alle ‚Nein’ sagten, habe ich es trotzdem gemacht. Kurze Zeit später habe ich das Gelände an der Werner-Hilpert-Straße entdeckt, auf dem ich folglich das ARM eröffnen würde.
Welche Lücke wird das ARM in der Kulturszene Kassels hinterlassen?
Ich bin mir nicht sicher, ob es viele Menschen gibt, die eine Lücke sehen oder gar verstehen, was dieser Ort in den letzten 27 Jahren für die Sozialhygiene dieser Stadt geleistet hat. Was wir hier gemacht haben, war ja nicht alles nur lustige Party. Das ARM war teilweise ein Auffangbecken für Menschen, die woanders nicht mehr hinkonnten. Manchmal kam es mir vor als säßen hier die Raucherzimmer sämtlicher Psychatrien Nordhessens. Für solche Leute war ich auch ein Gastgeber und das auch gerne. Wir waren quasi eine Art Anker. Darüberhinaus gibt es leider nicht mehr viele Orte, wo unsere Besucher hingehen können, vielleicht den „Kleinen Onkel“ oder das „Unten“. Und für die Leute, die das verstehen, ist es okay, dass die Lücke gerade zu spüren ist.
Dennoch ist das Projekt ARM nicht unbedingt ganz tot. Wie lautet der weitere Plan für das Gelände?
Grundsätzlich geht es erst einmal darum, neue Ziele zu setzen und uns neu aufzustellen. Wir werden auch abseits von Feierkultur und Party viel machen. Es sind Pläne und Ideen für die unterschiedlichsten Dinge vorhanden, wie zum Beispiel: Ateliers, Galerien, und sogar ein Tonstudio. Im „TingelTangel“ wollen wir ein Spezialitäten-Theater einrichten, den „Raum 4“ werden wir zu einer Kunstbühne umgestalten. Die große Weinkirche wird weiterhin Veranstaltungsort für Konzerte und Gesellschaften aller Art sein. Seit Anfang Februar hat ein junger Mann, die Wiese gepachtet und wird dort Black Music-, Hip Hop-, Soul,- und Afro-Partys veranstalten. Teilweise sind die Pläne sehr konkret, teilweise sind es nur rohe Hirngespinste. Ich schätze, dass wir frühestens im Herbst wieder losstarten können und bis dahin geht es vorrangig darum, ein neues Gesamtkonzept aufzustellen.
In 27 Jahren Clubkultur hast du vermutlich alles gesehen? Welches war die schlimmste Erinnerung?
Anfang des Jahrtausends entstand gerade ein netter ‚Flow’ aus jungen sowie älteren Menschen, welche die Cafés und Bars auf der Strecke vom Fes bis zum ARM besuchten und belebten. Dann begann jedoch eine Art Phase entgrenzter Gewalt, als eine Russendisko im Nebenhaus eröffnete. Die haben es tatsächlich geschafft, jeden Freitag und Samstag ab elf Uhr abends vor unserer Ladentür eine Massenschlägerei zu organisieren. Da wurde man jedes Wochenende hier mitten auf der Straße abgezogen. Wenn du dein Auto hier geparkt hast, standen gleich mehrere Leute herum und haben dich abgezockt. Zu dieser Zeit gab es wirklich nur einen kleinen harten Kern, der sich hierher traute und bei uns feiern wollte. Nach zwei oder drei Jahren hat die Russendisko jedoch zum Glück zugemacht und dieser ganze Zirkus ist weitergezogen.
Und die Schönste?
Das waren wahrscheinlich die Hessischen Theatertage 2002 im Hotel Reiss. Damals hatte sich das Staatstheater in der ersten Etage eingenistet und mit uns gemeinsam ein vollkommen neues Theaterkonzept präsentiert: In jedem Zimmer lebte eine Woche lang jeweils ein Theaterautor und schrieb und produzierte dort innerhalb einer Woche ein Stück, welches dann auch im Zimmer von Schauspielern inszeniert wurde. Somit gab es nach dieser Woche quasi 15 Premieren an einem Wochenende, vor einem Publikum von circa zehn Leuten pro Raum, die sich dicht an die Zimmerwand drängten, um sich die Stücke anzusehen. Das war richtiges Vollkontakttheater. Näher kann man am Theater nicht dran sein. Generell waren diese 13 Monate, in denen wir damals das Hotel Reiss betrieben, eine sehr schöne Zeit. Es gab Säle mit Platz für 2000 feiernde Menschen und dazu 120 Zimmer, auf denen oftmals auch Partys stattfanden. Ich habe mich damals einfach mal in der Hotelbranche versucht, obwohl ich keine Ahnung davon hatte (lacht). Es war ziemlich wild, aber auch spektakulär.
Was sollte sich deiner Meinung nach in puncto Kulturarbeit in dieser Stadt ändern? Wird zu viel Wert auf Hochkultur wie z.B. das Staatstheater gelegt?
Kulturell ist Kassel gerade im Rückwärtsgang. Das was nach außen hin produziert wird an Kultur soll offensichtlich einfach nur die Bälle flachhalten: Eisrutschen auf der Treppenstraße ist wahrscheinlich das größte kulturelle Erlebnis, das man hier im letzten Jahr erleben durfte. Diese Stadt suhlt sich nur in Prosperität und traut sich leider nichts mehr. Auch das Staatstheater, in seiner aktuellen Verfassung, ist ein Beispiel für diesen Rückgang: Während unsere Gesellschaft sich drastisch verändert hat, halten die Leute dort stur an ihrem alten Programm fest und haben keinerlei Antwort auf diese gesellschaftlichen Veränderungen. Ich mache mir ja öfter den Spaß und gehe ins Staatstheater, aber viele Migranten oder deren Kinder habe ich dort beispielsweise noch nicht gesehen. Und das obwohl das Staatstheater den größten Teil des Kulturetats erhält. Wenn man dann vergleicht, wie viele Zuschüsse Museen, Gärten und das Staatstheater erhalten, und mit wie wenig Geld die freie Kultur dieser Stadt abgespeist wird, muss man traurigerweise sagen, dass der Kulturetat dieser Stadt sehr asymmetrisch verteilt ist. Für eine aktive Änderung muss sich diese Asymmetrie zuerst ein wenig auflösen. Dabei hoffe ich, dass das von der Stadt neu erarbeitete Kulturkonzept ernst genommen wird.