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Die Fotografin Tanja Jürgensen über ihre Arbeitsweise und Erfahrbarkeit von „Wirklichkeiten“ (WS 2021/2022)

Foto: Sostmann

Von Jonas Sostmann

Tanja Jürgensen (geb. 1971 in Reinbek bei Hamburg) arbeitet als freie Fotografin und lebt mit ihrer Tochter Blanka in der Unterneustadt in Kassel. Sie hat Anglistik und Kunst an der Universität Kassel und an der Kunsthochschule Kassel studiert.
Derzeit arbeitet sie in der Ateliergemeinschaft MOOIMOOI. In diesem Interview spricht sie über ihre Arbeitsweise und inwieweit die Erfahrbarkeit von „Wirklichkeiten“ in ihrer Fotografie eine Rolle spielt.

Hallo Tanja! In meiner Recherche zu dir und deiner Arbeit ist mir der Begriff „Wirklichkeit“ häufig begegnet. Was ist für dich Wirklichkeit?
Meine Fotografie spiegelt Wirklichkeit. Wie in einem Spiegel sieht man das, was immanent vor einem ist. Über diese Abbildung hinaus wird jedoch noch viel mehr sichtbar. Der Moment der Wirklichkeit wird durch das „Einfrieren“ im Foto vergrößert. Eine Erweiterung um Wirklichkeiten.

Würdest du sagen, du suchst oder du erzeugst Wirklichkeit?
Beides. Meist erkenne ich diese Wirklichkeit nicht während des Fotografierens, sondern erst später im Bild. Zunächst ist da diese Begeisterung. Entscheidend ist dann das erste Bild, mit diesem beschäftige ich mich ganz intensiv. Dieses erste Bild enthält die Information und die Essenz, in welche Richtung ich gehen will – es begründet die anschließende Serie.
Durch Neugier, Interesse, Aufmerksamkeit, aber auch durch Aufträge kommen meine Projekte ganz unterschiedlich zu mir. Bei der Serie „Wohnlandschaften“ ging es z.B. um die Archivierung einer Wirklichkeit. Einer chaotischen Wirklichkeit, die in meiner Wahrnehmung konträr zur Entwicklung des städtischen Ortes hin zum Aufgeräumten stand.

Dazu fällt mir ein Zitat von Susan Sontag ein. Sie sagte: „Photography makes us feel that the world is more available than it really is“ („Durch die Fotografie fühlt sich die Wirklichkeit verfügbarer an als sie tatsächlich ist“). Was denkst du darüber?
Zunächst denke ich, dass Welten erlebbar werden, welche sonst nicht erlebbar oder sichtbar sind. Unser heutiges Leben ist so virtuell geworden. Wir erleben heute doch fast alles virtuell oder durch Medien. Unsere Kinder wissen von Orten und Welten, die sie real nie erlebt haben. Die reale Welt wird uns fremder – das reale Erlebnis wird zur Besonderheit.

Ich finde, das zeigt deine Serie „Der Garten“ exemplarisch, oder? Denkst du, die Kamera sensibilisiert für eine unerreichbare Wirklichkeit, eine vermeintliche Verfügbarkeit?
Dieser Ort ist mein täglicher Lebensraum und der meiner Tochter. Trotzdem erscheint mir dieser Garten oft wie ein Traum, eine Illusion. Es steckt da ja auch eine romantische Sehnsucht drin. Der Garten als Handlungs- und Erfahrungsraum ist für die meisten Menschen nicht mehr selbstverständlich. Meine Tochter hat aber ein Bewusstsein für diesen Lebensraum. Das bildet sich auch in ihrer Sprache ab. Sie pflegt Tiere und Pflanzen. Sie erntet und baut dort Dinge. Die Jahreszeiten werden anders erlebt. Ich erkenne hier eine Art Ur-Wissen, welches mehr und mehr verschwindet. Die Bilder zeigen auch die Melancholie dieses Ortes als etwas Vergangenes!

Denkst du, die Identität des Fotografen steckt in seinen Bildern?
Ja. Die mir bekannten Fotografen „passen“ zu „ihren“ Bildern. Ich weiß aber nicht, ob man den Fotografen nur über seine Bilder erkennen kann. Mit welchen Themen man sich beschäftigt, bildet einen großen Teil einer Person ab, dieser Teil wird in den Werken sichtbar. In meinen Bildern steckt eine Langsamkeit. Vielleicht gehe ich selbst so auch durch die Welt.

Gibt es ein Bild, dass für dich eine besondere Bedeutung hat?
„Invisible Man“ von Jeff Wall hat mich sehr geprägt. Seine Bilder wirken wie zufällige Schnappschüsse, dabei sind sie stark inszeniert. Er braucht keine Serien, ein einziges Bild reicht aus, um eine Intensität an Gefühlen und Wahrheiten auszudrücken, die mich sehr fasziniert.
Auf ganz andere Art und Weise schaffen das auch die Arbeiten von Sebastiao Salgado.
Ganze Menschheitsthemen wie Zivilisation, Evolution und Archaik finde ich in seinen Bildern.
Die Auseinandersetzung mit diesen Fotografen zeigte mir unter anderem auch, dass ich die Bilder machen muss, die ich machen kann.

Zum Schluss interessiert mich, woran du gerade arbeitest.
Momentan beschäftige ich mich mit dem ehemaligen Wohnhaus des Ehepaares von Gizycki. Renate von Gizycki (Jg. 1928) ist eine deutsche Ethnologin und Lyrikerin, die in Kassel lebt und bei der Erforschung von Südseevölkern wichtige Erkenntnisse gewinnen konnte. Ihr Mann Horst von Gizycki (1930 – 2009) war Professor für Kunstpsychologie an der Uni Kassel und außerdem als Essayist tätig. Daneben malte er selbst.
Im reichen und vielfältigen Leben dieses Paares war deren Haus ein Ankerpunkt. Meine Recherche umfasst Tagebücher, Zeichnungen, Mitgebrachtes von Reisen und Exkursionen und die unangetasteten Räumlichkeiten des Hauses, welche Treffpunkt für viele Besucher war. Meine Arbeit nähert sich dem Ort als räumliche Konzentration der Auseinandersetzung mit der Welt dieser beiden Menschen. Also wieder eine Faszination für einen Ort.

Und was könnte dich in Zukunft begeistern?
In Zukunft würde ich mich gerne mehr mit Orten der Vergangenheit beschäftigen – auch gebaute Orte.
Eine Erfahrbarkeit der Lebensräume und Lebenswirklichkeiten von Menschen früherer Zeiten ermöglichen. Dabei die Räume der Vergangenheit atmosphärisch zu untersuchen und über eine Konzentration der  einzelnen Teile ein Gefühl für das Ganze erahnbar zu machen. Ein Ganzes, welches über die reine Erfahrbarkeit der Sinne geht!

Vielen Dank Tanja. Das ist ein schöner Abschluss für unser Interview. Ich danke dir für deine Bereitschaft mir einen Einblick in deine „Wirklichkeiten“ zu geben.

https://www.tanjajuergensen.com