,,Das ganze Leben ist ein Warten“ – Interview mit der Malerin Christine Reinckens (WS 2013/2014)

Reinckens2-500

Christine Reinckens. Foto: Tatjana Reichl

Von Tatjana Reichl

Die Künstlerin Christine Reinckens (*1962), bereits mit einigen Kunstpreisen ausgezeichnet, malte schon als Schülerin sehr gerne. Seit ihrem Studium arbeitet sie als freie Künstlerin. In Kassel kennt man sie durch ihre Ausstellungen und Gerichtszeichnungen für Presse und Fernsehen.  Bei heißem Tee und Lebkuchengebäck erzählt sie vom Warten, von Fäden und Kaugummi-Küssen.

Gibt es Künstler, deren Werke Sie besonders faszinieren? Eine Art künstlerisches Vorbild?
Oh, da gibt es so viele (lacht). Den einen verehre ich für die Farbe, den Anderen für die Kühnheit der Idee, den Dritten für die Biographie, die Stringenz, oder den Humor. Aus der Kunstgeschichte haben mich viele Leute geprägt. Vor allem Surrealisten und Expressionisten.

Warum gerade diese beiden Stilrichtungen?
Die Surrealisten bestechen durch die Ideen, die untergründigen Botschaften und die Ambivalenzen. Auch durch das Spiel mit den Worten, das mir für den Titel sehr wichtig ist. Die Expressionisten stehen für die seelische Wucht. Auch die impressionistische Malweise beeinflusst mich. Seitdem ich Plein-Air male, weiß ich, was das Licht für eine Bedeutung hat.

Warum?
Man steht in der Sonne oder im Schatten und hat maximal drei Stunden Zeit, danach ist die Lichtsituation komplett verändert. Oder man hat ein Modell mit beginnender Kreislaufschwäche. Da gilt es, das Wesentliche zügig auf den Punkt zu bringen.

Sie hatten verschiedene Arbeitsaufenthalte in Frankreich, England und Italien, gebürtig kommen Sie aus Hannover. Warum die Entscheidung, in Kassel zu leben und zu arbeiten?
Ich bin durch das Studium nach Kassel gekommen und dann durch familiäre Gründe hier geblieben. Das war für mich letztendlich gut, weil in Kassel damals die Realisten Bluth und Haug gelehrt haben und das kam meiner Art entgegen. Obwohl wir uns in den 80er Jahren zunächst rechtfertigen mussten, dass wir überhaupt malen – die Malerei galt als längst abgeschafft. Und dann noch realistisch! – und zudem noch Menschen! Das war völlig out (lacht). Aber so entstanden kollegiale Netzwerke und Freundschaften, sodass ich gerne in Kassel blieb.

Woher nehmen Sie Ihre Inspiration?
Vom Leben (lacht). Von der Beobachtung und Wahrnehmung von Beziehungen. Und vom Augenreiz des Sichtbaren. Aber auch über Sprache, Synonyme. Ich bin über 30 Jahre damit beschäftigt, da ist das Übersetzen dieser Impulse in Bilder ein Teil von mir selbst geworden. Und wenn ich gerade ein bestimmtes Thema beackere, bereitet die eine Arbeit die nächste vor, als Variation oder Folge. Speziell gibt es oft bildhafte Worte, die mich zu einem Bild inspirieren.

Zum Beispiel?
Zum Beispiel fasziniert mich das Thema Zeit. Gerade kürzlich erst jonglierte ich mit deutsch-französischen Vokabeln, welche die Zeit bildhaft darstellen als Etwas, das verläuft, verrinnt.  Mir fiel „Au fil du temps“, übersetzt: ,,Im Lauf der Zeit“ ein. Filer heißt, sich davonstehlen, abmachen. Fil –Faden, Schnur. Das Deutsche ist abstrakter, aber ,,im Schnüren der Zeit“ trifft es bildhaft genauer.  Fäden und Schnüre habe ich schon oft in Bildern benutzt, um Geschichtsverläufe oder Bindungen darzustellen. Und da taucht der Faden wieder auf, diesmal sprachlich im Zusammenhang mit Zeit! Ich saß gerade im Flugzeug, überwältigt von der Idee und  habe mir auf die Spucktüte gleich eine Skizze gemacht und diese im Urlaub immer wieder angeschaut. Kaum zu Hause, habe ich alles arrangiert, den Faden hingelegt, und ein passendes Format ausgesucht. Die  Entscheidung zwischen großem oder kleinem Format ist sehr wichtig. Im Kleinen kann ein Motiv niedlich sein, im Mittleren banal und im Großen magisch. Oder auch umgekehrt…  

Sie sind auch als Gerichtszeichnerin tätig. Worin besteht der Reiz, diese Tätigkeit auszuüben?
Genau das zu tun, was ich als Künstlerin sowieso immer mache: Ich stehe am Rande, beobachte, dokumentiere, vertiefe mich in Gesichtsausdrücke. Das dann umzusetzen. Dafür gibt es im Gegensatz zu meiner freien Arbeit einen akuten Bedarf. Die Leute wollen wissen: Was sind das für Typen? Wie sitzen sie, wie gucken sie? Und das versuche ich über genaue Beobachtung festzuhalten.

Beobachtungsgabe also als größte Herausforderung?
Ja, aber auch Interpretation. Nicht nur beobachten, sondern in der Fülle der Informationen das Wesentliche finden. Man hat ungefähr zwei Stunden Zeit, um das Wichtigste herauszufiltern und auf den Punkt zu bringen. Pro Verhandlungen entstehen vier bis sechs Zeichnungen, die dann in unheimlich dichter Zeit ausgearbeitet werden.

Besonders bekannt ist Ihr Projekt ,,Variationen des Wartens“, bei dem Sie die unterschiedlichsten Menschen bei den verschiedensten Art und Weisen des Wartens zeigen. Was bedeutet ,,Warten“ für Sie?
Das ganze Leben ist ein Warten und gleichzeitig ist es der Aufruf, gegenwärtig zu sein. Beim Warten gegenwärtig zu sein ist auch eine Kunst. Dann sitzt man nicht mehr im Warte-Stau, dann ist es geschenkte Zeit. Wenn ich zum Beispiel in einem Wartezimmer sitze, muss ich das nicht schlimm finden, sondern kann es genießen, weil ich nachdenken, Menschen beobachten oder zeichnen kann.

Auf was lohnt sich ,,Warten“?
Naja, die Schwangerschaft ist natürlich toll (lacht). Als Kind hat man ja meist auf etwas gefiebert, und am Ende war das Warten eigentlich schöner als das, was dann kam: Endlich in die Schule gehen dürfen…! Oder Weihnachten…und dann…puff…war Weihnachten vorbei. Aber das Fiebrige vorher war doch schöner. Ah, der erste tolle Junge!  Der war vielleicht gar nicht so toll, der erste Kuss hat nach Kaugummi geschmeckt (lacht). Einige Menschen sind in der Phase des Wartens, der Sehnsucht glücklicher und kreativer als hinterher, wenn sich alles erfüllt hat. Zum Glück gibt es ja immer wieder neue Träume und Wünsche, auf deren Erfüllung es sich lohnt zu warten.

Vielen Dank!

www.reinckens.de