„Die Geschichte lebt“ – Gespräch mit der Erzählkünstlerin Kirsten Stein (WS 2012/13)

Kirsten Stein, Foto: Capell

Kirsten Stein ist Erzählkünstlerin  und freischaffende Künstlerin: ein inspirierendes Gespräch mit einer Frau voller Pläne, über ihre ungewöhnliche Berufswahl und die Aufgabe des Märchenerzählers.

Von Sarah Capell

Wie sind Sie zu Ihrem Beruf als Erzählkünstlerin gekommen?
Ich habe schon immer Geschichten erzählt, das gehörte zu mir. Vor Jahren habe ich angefangen einen Waldkindergarten aufzubauen. Freitags gab es dort immer ein Kartoffelfeuer, zu dem auch ein alter Jäger kam. Der kannte zwei Geschichten der Brüder Grimm, die er uns immer erzählt hat. Das hat mich zum Nachdenken gebracht, darüber, dass diese alte Tradition des Erzählens schön ist, aber verloren zu gehen droht. Dann habe ich angefangen den Kindern z.B. Naturgeschichten und Märchen zu erzählen. Ich habe eine Ausbildung bei einer großartigen Erzählerin gemacht: Jana Raile aus Hannover. Nachdem ich noch eine zeitlang im Kindergarten gearbeitet habe, musste ich feststellen, dass man seiner Berufung folgen muss. Das war eine mutige Entscheidung, denn ich hatte anfangs nicht viele Aufträge als Erzählerin und wusste nicht, wie ich davon leben sollte. Es wird aber immer besser, ich hatte schon viele Aufträge, bei denen viele hundert Zuhörer waren. Und ich bekomme sehr positive Rückmeldungen von den Leuten. So werde ich von Jahr zu Jahr bekannter, das ist natürlich gut. (lacht)

Sie sind Märchenerzählerin und freischaffende Künstlerin. Wo besteht für sie die Verbindung zwischen Märchen und Kunst?
Grundsätzlich ist Erzählen an sich schon eine Kunst. Ein guter Erzähler schafft es, in seinen Zuhörern Bilder entstehen zu lassen. Diese Kunst sieht man nicht im Außen oder kann sie ausstellen. Wenn die Menschen nach einem Vortrag nach Hause gehen, nimmt jeder Einzelne ein anderes Kunstwerk mit. Das finde ich so faszinierend: Man kann mit Erzählen in jedem Einzelnen etwas anderes anrühren und den Leuten Impulse für ihr Leben geben. Die Geschichte lebt. Ich liebe es außerdem sehr, Sinneserfahrungen mit Skulpturen zu verknüpfen oder Gebilde zu schaffen, die nicht nur schön aussehen, sondern die man irgendwie nutzen kann und wenn es nur zum Spiel ist. Seit einiger Zeit dann eben auch in Verknüpfung mit Märchen. Ich bin ja noch nicht sehr lang hauptberufliche Erzählerin. Dabei verknüpfe ich z.B. gern das Märchenerzählen mit anderen Kunstformen, wie Tanzen oder Musik. Ich habe etwa zwei Tänzerinnen kennengelernt, die im Sommer mit mir auf der Freilichtbühne in Gudensberg ein Grimm-Märchenprogramm machen. Ich freu mich sehr drauf. Programme, bei denen man verschiedene Kunstformen miteinander verknüpfen kann, finde ich gut.

Glauben Sie an Wunder, wie sie im Märchen geschehen?
Ja, während meiner Erzählausbildung hatte ich so etwas wie ein Burnout. Ich bin lebensbedrohlich krank geworden. Eigentlich hätte ich die Ausbildung abbrechen müssen. Aber wenn ich mich für etwas entschieden habe, dann ziehe ich das auch durch. Und dann habe ich, als ich mit meiner Lehrerin am Erzählen einer Stelle im Märchen Schneeweißchen und Rosenrot gefeilt habe, einen großen Durchbruch gehabt. Ich habe durch das Erzählen einer emotional  aufgeladenen Stelle eine sehr große körperliche Kraft verspürt. Danach bin ich gesund geworden. Das war für mich ein Wunder. Später dachte ich: Wir als Erzähler haben eine Verantwortung, wir müssen wissen, was wir tun. Wir müssen Geschichten so erzählen, dass jeder Mensch etwas darin findet, das ihn stärkt. Das was die Geschichte ausmacht, nicht was wir in der Geschichte sehen wollen. Geschichten berühren Menschen tief in ihrem Inneren. Das hat nicht direkt mit mir als Erzähler zu tun, ich bin nur der Vermittler. Diese Kraft steckt eigentlich in der Geschichte. Märchen lehren uns, dass man nie aufgeben darf, dass man sich diesen Prüfungen, die uns allen im Leben begegnen stellen muss. Und dass man die Rettungsanker, die einem gereicht werden, auch ergreift. Dann glaube ich, können viele Wunder geschehen.

Der Beruf des Märchenerzählers ist heutzutage kaum noch bekannt. Verschwinden auch die Märchen?
Ich denke, wir waren kurz davor, aber es lebt gerade wieder auf. Es gibt noch viel Arbeit, den Menschen die Märchen wieder näher zu bringen, aber ich merke auch, dass die Menschen wieder mehr nach Dingen suchen, die sie erfüllen. Die Geschichten werfen uns auf uns selber zurück. Wir ruhen in uns, wenn wir sie hören. Menschen finden durchs Erzählen ihre innere Mitte. Und ich denke, darum lebt das Märchen wieder auf. Die Leute, die bei mir waren, kommen wieder.

Gibt es das Happy End auch im wahren Leben?
Ja. Nicht nur eins. Wir kennen es aus den Märchen: Anfangs gibt es einen Mangel, man macht sich auf den Weg, es gibt die Prüfung und dann gibt es die Hochzeit, das Happy End. Wenn wir ein Märchen hören, denken wir damit ist es abgeschlossen. Aber das ist es nicht für das Leben der Helden, es ist lediglich ein abgeschlossener Prozess. Danach geht es weiter und dann kommen der nächste Mangel und der nächste Weg. So ist es auch bei uns, wir haben im Leben viele Happy Ends, eins nach dem anderen.