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Von Karolin Lehmann
Prof. Dr. Holger Ehrhardt (Jg. 1964) bekleidet an der Universität Kassel eine Professur mit dem Lehr- und Forschungsschwerpunkt „Werk und Wirkung der Brüder Grimm“. Daraus ergibt sich auch eine Zusammenarbeit mit der Grimmwelt. Ehrhardt erzählt uns im Folgenden von seiner Forschungstätigkeit und den Motiven, die ihn persönlich antreiben.
Sind Sie der Meinung, dass die Grimmwelt in der Stadt Kassel eine historische Berechtigung hat und mehr als nur ein touristischer Anziehungspunkt ist?
Ja, natürlich! Denn das bekannteste Buch der deutschen Literatur weltweit – und das sind die Kinder- und Hausmärchen – ist hier entstanden. Von Kasselern sind wesentliche Beiträge erbracht worden und genau deshalb ist die Grimmwelt hier am richtigen Ort. Wir haben in Kassel nicht nur das architektonisch ansprechende Gebäude der Grimmwelt, sondern auch historische Orte, an denen die Brüder Grimm gewirkt haben.
Welche Orte sind das genau?
Das sind zum einen die Orte, an denen die Grimms gewohnt haben. Zuerst lebten sie als Schüler in der Nähe des Ottoneums, dann in einem Haus in der Marktgasse, in der Nähe der Markthalle. Von dort sind sie umgezogen in das Torgebäude. Das ist eines der Gebäude, das noch in der Form so dasteht, wie es in der Zeit der Grimms ausgesehen hat. Später wohnten sie in der Fünffensterstraße, hier ist heute ein Nagelstudio. Dort wurde beispielsweise Deutsche Grammatik geschrieben – das weiß kein Mensch mehr! Dann haben sie in der Bellevue gelebt – oberhalb der Karlsaue –, in zwei verschiedenen Häusern, von denen ebenfalls noch eins existiert. Außerdem waren sie Schüler des Friedrichsgymnasiums und arbeiteten als Bibliothekare am Museum Fridericianum.
Inwiefern hat das Wirken der Brüder Grimm noch immer Einfluss auf die heutige Zeit?
Das Grimm’sche Wörterbuch ist nach wie vor das Referenzwerk Nummer 1 für die Herkunft eines Wortes und für dessen frühere Verwendung. Es ist eines der großartigsten Wörterbücher weltweit. Es gibt Auskunft darüber, woher ein Wort kommt und in welchen Bedeutungsvarianten es verwendet wurde. Außerdem sind die Märchen noch immer allgegenwärtig. Zum Beispiel werden Märchen nach wie vor mündlich und in Medien erzählt. Von Psychologen werden sie therapeutisch eingesetzt und von Pädagogen diskutiert. So wird beispielsweise immer wieder gefragt, ob Kinder durch die Grausamkeit in den Märchen gefährdet werden. Nun gibt es einige Märchen, die aus heutiger Erziehungssicht problematische Inhalte enthalten. Allerdings liegt es doch im Ermessen des Vorlesers, diese Märchen auszulassen. Es gibt Briefe, in denen Wilhelm Grimm das explizit so sagt: Du kannst doch vorlesen, was du möchtest, du kannst die Auswahl der Märchen treffen. An dieser Stelle sollte ergänzt werden, dass die Brüder Grimm die Kinder- und Hausmärchen nicht vornehmlich als Kinderliteratur gesammelt haben.
Wie gestaltet sich Ihre Forschungstätigkeit in Bezug auf die Märchen der Brüder Grimm?
Es gilt immer wieder Irrtümer aufzudecken und neue Quellen zu erforschen. Ich möchte von der Suche nach der Erzählerin des „Tischlein deck dich“ Märchens berichten: In einem Handexemplar der Brüder Grimm finden sich Hinweise auf eine Frau Storch im Hause Henschel. Ich habe im Henschel-Archiv herausgefunden, dass Frau Storch die Schwägerin des Firmengründers Henschel war. Sie war eine unverheiratete Dame, die sich um die Kinder gekümmert und dieses Märchen erzählt hat. Es gibt sogar ein Bild und eine Handschrift von ihr. Für mich war es eine Sternstunde, diese Märchenbeiträgerin zu identifizieren, denn meistens können solche Details nicht mehr ermittelt werden.
Also hat die Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk der Brüder Grimm auch eine persönliche Bedeutung für Sie?
Ja, das hat es. Es hat etwas von einer Entdeckungsreise, die man unternehmen kann. Meine Mutter ist eine geborene Grimm, wir sind zwar nicht mit den Brüdern Grimm verwandt, aber als kleiner Junge habe ich das immer geglaubt. Deshalb war es für mich fast vorbestimmt, mich auf diese Entdeckungsreise zur Erforschung von Leben und Werk der Brüder Grimm zu begeben.
Haben Sie denn ein Lieblingsmärchen?
Ja, ich habe ein Lieblingsmärchen, und zwar „Das blaue Licht“, denn als Kind war meine Lieblingsfarbe blau und blaues Licht hat ja etwas ganz Besonderes. In diesem Fall teile ich ausnahmsweise mit, woran ich zurzeit arbeite: Es ist nicht bekannt, von wem dieses Märchen ursprünglich erzählt worden ist. Das ist eine Frage, zu deren Klärung ich immer wieder Anläufe nehme und scheitere. Zwar soll man so etwas nicht sagen, da dies für gewöhnlich kein Glück bringt, aber mein Ziel ist es, dass am Ende meiner Forschung steht: eine bestimmte Version des „Blauen Lichts“ ist von dieser Person erzählt worden.
Was könnte sich in Kassel verändern, damit Leben und Werk der Brüder Grimm stärker ins Bewusstsein treten?
Ich würde mir wünschen, dass das Torgebäude, das als historischer Grimmort noch immer existiert, in den nächsten Jahren als ein Museum – eine Erweiterung der Grimmwelt – möglichst historisch rekonstruiert wird, sodass die Besucher einen Blick zurück in das 19. Jahrhundert werfen können. Außerdem fehlen an den meisten Lebens- und Wirkungsorten Hinweise auf deren Grimmbezug. Ich fände es schön, wenn der Ort Kassel nicht nur als documenta-Ort der modernen Kunst betrachtet wird, sondern auch das historische Erbe mehr ins öffentliche Bewusstsein gebracht würde.
http://www.uni-kassel.de/go/Holger.Ehrhardt