Von Viviane Heinemann
Anne Fingerling, geboren 1964, ist freie Journalistin und Autorin mit Begeisterung für Kassels Kultur. Zwei ihrer Bücher „Sagenhafte Wilhelmshöhe“ oder ihr Museumsführer für Kinder – „Auf leisen Tatzen im Schloss“ – lassen einen in die Kasseler Kulturszene eintauchen. Durch ihr Engagement mit Kindern, ihre Mitarbeit bei einem Kulturmagazin oder als Guide für die Wasserspiele, bietet sie einen Einblick in die, nicht für jeden sichtbare, Faszination Kassels.
Hat sich, seit Kassel im Juni 2013 zur Weltkulturstadt ernannt wurde, etwas im kulturellen Geschehen geändert?
Der Status „Weltkulturerbe“ hat grundsätzlich nichts am kulturellen Geschehen geändert. Der Titel gilt eigentlich den Wasserkünsten und dem Herkulesmonument, aber natürlich wird der Bergpark als Ganzes gesehen. Was sich geändert hat, sind die deutlich gestiegenen Zahlen der Besucher und des Tourismus im Allgemeinen. Dies wirkt sich im Umkehrschluss positiv auf die angrenzenden Museen, wie die Löwenburg, das Schloss Wilhelmshöhe oder den Gastronomiebereich, aus. Kassel wird möglicherweise nun von außerhalb anders wahrgenommen und diese 5-Jahres-Lücke zwischen den Documenta-Ausstellungen wird nun etwas gefüllt.
Mal Hand aufs Herz, Kassel ist eine hässliche Stadt. Was soll einem an Kassel, abgesehen vom Weltkulturerbe, überhaupt begeistern?
Als hässlich würde ich Kassel nicht unbedingt bezeichnen. Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass Kassel keine schöne Altstadt zu bieten hat, aber diese Tatsache ist historisch bedingt. Trotzdem hat Kassel auch schöne Seiten, neben dem Weltkulturerbe etwa das Fulda-Ufer. Was Kassel auch „schön“ macht, ist die kulturelle Vielfalt. Trotz seines unberechtigten Provinzstatus’, hat Kassel eine sehr lebendige und reichhaltige Kultur zu bieten. Von Kunst über Schauspiel bis hin zur Musik gibt es für jeden Geschmack etwas. Kassel besitzt etablierte Kultureinrichtungen, wie beispielsweise das Staatstheater oder die Museumslandschaft Hessen-Kassel. Auch die bekannte Kunsthochschule bringt immer wieder kreative Köpfe hervor.
Mit Orten wie dem Kulturbahnhof, der Caricatura oder dem Kulturzentrum „Schlachthof“ wird der Versuch unternommen, die junge, alternative Kunst im Bereich Musik, Schauspiel oder Kunst interessant genug zu gestalten, um junge Künstler hier in Kassel halten zu können. Viele denken, dass es in Städten wie Berlin viel mehr Möglichkeiten gibt, sich künstlerisch zu entfalten und nur wenige bedenken, dass die Konkurrenz bei dieser Menschenmasse erdrückend hoch ist. Im Gegensatz dazu ist Kassel mit knapp 200.000 Einwohnern eine optimale Stadt mit viel Potenzial und einer realen Chance, nicht in der Menge verloren zu gehen.
Im direkten Vergleich mit anderen, weltbekannten Weltkulturerbe-Stätten, wie z. B. dem Vatikan, Stonehenge oder auch Notre Dame de Chartres, ist Kassel eher unbekannt. Glauben Sie, dass Kassel im internationalen Rahmen mithalten kann?
Ja, das glaube ich durchaus. Jede dieser Stätten zeichnet sich durch ihre eigene Geschichte und ihren historischen Kontext aus, aber das wichtigste ist: Jedes Weltkulturerbe ist einzigartig!
In dieser Hinsicht kann Kassel definitiv mithalten. Letztes Jahr hat gezeigt, dass sich viele Menschen mit diesen ausgewählten Orten auseinandersetzen und ihre Reisen nach ihnen planen. So kam es, dass wir in Spitzenzeiten eine Besuchersteigerung von bis zu 120 Prozent vorweisen konnten. Ich finde, dass so etwas schon repräsentativ dafür steht, dass Kassel auf einem guten Weg ist, sich international nicht nur Dank der documenta einen Namen zu machen.
In Ihrem Buch „Sagenhafte Wilhelmshöhe“ geht es auch um den Bergpark und die Faszination, die er hervorruft. Was macht denn den Park so faszinierend?
Was den Park einerseits besonders macht, ist der alte und unveränderte Baumbestand, andererseits ist es aber auch seine eindrucksvolle Größe, denn er ist immerhin Europas größter Bergpark! Man kann ihn vor allem nicht visuell abgrenzen, denn er geht nahtlos in den Habichtswald über. Park und Wald sind eins.
Die einmaligen Wasserspiele üben ebenfalls eine Faszination aus, denn seit über 300 Jahren funktionieren sie unverändert. Man benutzt keine technischen Hilfsmittel, wie Pumpen oder Ähnliches, um die Spiele zu betreiben.
Zusammenhängend kann man im Park auch das Spiel und die Einflüsse der Epochen sehen. Von Barock über Frühromantik bis hin zur sogenannten Spätromanik ist alles und noch mehr im Park gestalterisch enthalten und bis heute erhalten. Dieser fließende Übergang der Epochen macht den Park einfach zu einem spannenden Ort, der die Fantasie anregt.
Wie würden Sie Kassel einem nicht Ortskundigen beschreiben und zu was würden Sie ihm raten?
Also den Bergpark, die Museen und das Umland Kassels sollte man sich ansehen. Ich kann aber für niemanden eine „To-Do“- Liste erstellen, weil Kassel für jeden Geschmack etwas zu bieten hat. Zum Beispiel das Gloria-Kino, das letzte 50er Jahre Kino Kassels, ist ein Highlight.
Man muss als Besucher aufmerksam durch die Stadt streifen, um die versteckte Schönheit Kassels entdecken zu können. Sie ist eine lebenswerte und lebensfrohe Stadt, mit einer guten Infrastruktur und was für mich auch wichtig ist, sie ist zwar eine Großstadt, aber sie ist nicht zu groß, um sich darin verloren zu fühlen.