Von Nick Brandel
Als praktizierender Schauspieler, Regisseur und Intendant ist der studierte Theaterwissenschaftler, Historiker und Philosoph Thomas Bockelmann (Jg. 1955) seit der Spielzeit 2004/05 am Staatstheater Kassel. 2013 wurde sein Vertrag verlängert bis 2020.

Thomas Bockelmann. Foto: Staatstheater Kassel
Um ein Wort Frank Castorfs zu zitieren: Jener „merkwürdige Ort Theater“, was ist das für Sie, Herr Bockelmann?
Mein komplettes berufliches Leben: Auf der Bühne als Schauspieler, als Regisseur und als Leiter eines Theaters, der viel für die und mit den Kontakten zu Zuschauerinnen und Zuschauern zu tun hat. Für mich ist das Theater ein Ort des verdichteten Lebens, es ist ja auch ganz schön, dass das Wort Dichter sogar drinsteckt. Es ist ein Ort, wo man diesen schönen Satz von Schiller – „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ – in schönster Weise immer wieder aufs Neue untersuchen kann. Und das Theater ist auch ein Ort, an dem man sich mit den zentralen Fragen beschäftigt, die das Leben ausmachen: Glück, Spielen, Langeweile, Trauer, Liebe, aber auch die dunklen Seiten der Menschen. Theater in diesem Sinne auch als das Gedächtnis der Menschheit, es erzählt zweitausend Jahre alte Geschichten.
Jedoch ist Theater kein Museum: Bei den klassischen, alten Texten ist es natürlich wichtig, dass wir sie immer wieder neu befragen. Die großen Klassiker sind ein bisschen wie ein Schwamm: sie haben die Fähigkeit, was gerade in der sich ständig ändernden Welt ist, aufs Neue in sich aufzusaugen. Theater ist übrigens ein Ort, an dem man sich dieses schöne Motto von Samuel Beckett: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“ – also besser scheitern – auf eine gute Art zu eigen machen kann. Er hat auch den schönen Satz formuliert von der erhabenen „Idee einer Humanität in Ruinen“. Auch Kassel war ja vor siebzig Jahren eine Trümmerwüste und trotzdem ist hier wieder ein soziales, humanes Zusammenleben entstanden auf den Trümmern dieser grauenhaften deutschen Geschichte von ’33 bis ’45. Ich habe lange gedacht, der Satz von Bertolt Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ ist überholt, jetzt hat man leider das Gefühl: vielleicht ist da doch noch was wahr dran, denn die Welt wird in den letzten Jahren eher wieder hässlicher. Und wenn ich sage, das Theater ist ein verdichteter Spiegel der Welt, dann heißt das eben auch, dass man die Welt in ihrer Pracht und ihrem Schrecken auf die Bühne hievt. Oder es versucht.
In der praktischen Umsetzung: Wie nah ist das Staatstheater Kassel an dieser Vorstellung, diesem Optimum?
Also wie gut uns das hier gelingt, das müssen andere beurteilen. Ich kann es vielleicht an dem schönen Faktum festmachen, dass wir vor elf Jahren mit 5800 Abonnenten begannen und vor drei Jahren dann die Zehntausendermarke überschritten haben. Das heißt, da gibt es eine Menge Menschen, die uns einen Vertrauensvorschuss geben, indem Sie sich durch den Erwerb eines Abonnements über eine ganze Spielzeit sozusagen selbst verpflichten, sich das, was wir hier machen anzusehen. Und ich glaube, das geschieht, weil sie unsere Arbeit schätzen, weil sie gelegentlich auch das Gefühl haben, dass das, was da auf der Bühne verhandelt wird, sie meint oder sie etwas angeht. Bei annähernd 35 Premieren pro Jahr wird uns nicht jede gleich gut gelingen, aber es gibt schon Sternstunden: Als beispielsweise am Samstag bei der Premiere vom „Volksfeind“ Bernd Hölscher beim Schlussapplaus auf die Bühne kam und alle Menschen im Saal, einer amorphen Masse gleich (Bockelmann bedeutet mit waagrecht vor die Brust gesetzten Unterarmen einen Block), sich erhoben zu einer Standing Ovation – das sind dann natürlich Höhepunkte, in denen ein Schauspieler, der so extrem viel in seine Rolle investiert, dann auch viel zurückbekommt.
Aber ich kann Ihnen zumindest sagen, worum ich mich bemühe in der Praxis der Probenarbeit, für mich der schönste Teil meines Berufs: Wenn ich auf einer Probenbühne bin und wir etwas ausprobieren können. Hier ist die Hauptaufgabe, dass man eine möglichst angstfreie, spielerische, kreative Atmosphäre herstellt, in der Schauspielerinnen und Schauspieler tatsächlich etwas erfinden können, das weit über die eigene Person und das eigene Leben hinausgeht und hinausgehen muss. Dazu braucht es viel Mut, dazu braucht es einen geschützten Raum. Es gibt keinen anderen Beruf, in dem man unmittelbarer dem Urteil anderer Menschen ausgesetzt ist. Jeder, der eine Karte kauft, kann hinterher sagen: „Sie waren schlecht. Du warst scheiße.“ Wenn ich einem Tischler sage: „Der Tisch ist nicht gut, den du da gemacht hast“, dann steht wenigstens noch der Tisch dazwischen. Aber der Schauspieler – dasselbe gilt natürlich auch für Tänzer und Sänger – steht unmittelbar mit sich selbst, mit seinem Körper, seiner Psyche und seiner Intelligenz für das ein, was er tut. Also eine direktere, unmittelbarere Art, einer Kunst nachzugehen, gibt es nicht. Und gleichzeitig ist diese Kunst so vergänglich und quecksilbrig. Ein Bild oder einen Film kann ich mir noch nach vierzig Jahren angucken, aber die Vorstellung von gestern ist die Vorstellung von gestern.
Sie sprachen davon, dass die Welt hässlicher wird dieser Tage. Der Streit zwischen Relling und Gregers in der Wildente: Rellings „stimulierendes Prinzip“ der „Lebenslüge“ – eine Art pragmatischer Wahrheitsbegriff à la Nietzsche – versus Gregers „ideale Forderung“. Übertragen auf das Theater: Ist Theater konstruktiv, Illusion oder destruktiv, Desillusion? Amusement, Erbauung, Revolte, Kontemplation: hat Theater eine Aufgabe?
Ich glaube nicht, dass es die eine Aufgabe gibt. Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn Leute bei uns in eine Vorstellung gehen und sich zweieinhalb Stunden unterhalten fühlen. Schöner finde ich es, wenn sie etwas mit nach Hause nehmen, das sie weiter beschäftigt. Alle wesentliche Erfahrung geht ja durch etwas hindurch, das gelegentlich auch mit Schmerz oder Trauer zu tun hat. Weil Sie eben Nietzsche zitiert haben und weil bei uns gerade der „Volksfeind“ auf dem Spielplan steht: An einer Stelle in der Minima Moralia nimmt Adorno Bezug auf Nietzsche mit dem schönen Satz: „Die zartesten Dinge, ihrer eigenen Schwerkraft überlassen, haben die Tendenz, sich in der unausdenkbaren Roheit zu vollenden.“ Die Frankfurter Schule nennt das die Dialektik der Aufklärung. Dort, wo Leute auf zu radikale Weise etwas Gutes wollen, gebären sie auch Schrecken. Wir denken an die Kulturrevolution, an die Französische Revolution, an Pol Pot. Das waren ja alles mal Leute, die zunächst aus einem idealistischen Impuls heraus agiert haben. Aber das endet dann sehr schnell bei Robespierre: „Die Tugend muss durch den Schrecken herrschen.“ Deshalb glaube ich auch nicht, dass es im praktischen Leben wie auch im Theaterleben um richtig oder falsch oder um gut oder schlecht geht, sondern um besser oder schlechter, um richtiger oder falscher. Ich glaube, dadurch, dass Leute sehr apodiktisch gesagt haben: „Meines ist das allein Selig-Machende.“ ist sehr viel Unheil über die Welt gekommen. Ein wirklicher Austausch, wie er – wenn es gut läuft – zwischen Bühne und Zuschauer stattfindet, ein wirkliches Gespräch wie zwischen uns, muss eigentlich immer von der Annahme ausgehen – mit Gadamer gesprochen–, dass an dem, was der Andere sagt, auch was dran sein könnte. Dann wird’s ein Gespräch. Ich glaube auch, dass der Satz von Rosa Luxemburg: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ das Wesen der Demokratie ausmacht, übrigens auch das Wesen des dialektischen Denkens. Aus dem Widerspruch kann etwas Gutes, Neues, Drittes entstehen, dadurch kommt eine Welt voran. Doch dafür muss man sich öffnen und miteinander reden. In diesem Sinne ist das Wesentliche einer Theateraufführung ja, dass man sie hic et nunc mit anderen gemeinsam erlebt, sich hinterher darüber austauschen kann, sich darüber ärgern kann, sich daran erfreuen kann, manchmal auch einen Erkenntnisgewinn hat. Manchmal auch ganz einfach nur berührt ist, also auch über Empathie – ein zentraler Begriff im Theater –, also über die Kunst des Sich-Anverwandelns und durch Einfühlung einen Zugang findet.
Mit Thomas Ostermeier haben Sie einen prominenten Verbündeten bei Ihrer Verteidigung des Stadttheater-Konzeptes und der Ensemble-Idee*. Dem Vorwurf der sogenannten freien Off-Szene, die konventionellen Häuser seien lediglich „Interpretentheater“ und böten keinen Raum für Experimente, entgegnete er in einem Interview auf nachtkritik.de mit dem Hinweis, die Diskussion sei nicht eigentlich eine ästhetische, sondern lediglich Mittel zur Verschleierung der Enttäuschung über ausbleibende Subventionen. Entspringt es tatsächlich dem Ressentiment der selbsternannten Avantgarde, so manchem Stadttheater Konservierung der Mittelmäßigkeit und Perpetuierung des bequemen Konsums vorzuwerfen? Oder ist da tatsächlich was dran?
Ich glaube, das ist eine Scheindebatte. Jede Art von Avantgarde – sofern sie gut ist – sickert natürlich in Institutionen rein. Es ist auch heute so, dass Gruppen, die sich außerhalb des Stadttheaterbetriebs sehen, wie z. B. Rimini Protokoll, gar nicht überleben können, wenn sie nicht immer wieder Stadt- und Staatstheater fänden, die sich zur Verfügung stellen und mit ihnen kooperieren. Der Ensemble-Gedanke ist ein extrem wichtiger, weil Qualität auch etwas mit Kontinuität zu tun hat. Wenn man mit einer bestimmten Gruppe von Leuten längerfristig arbeitet, dann entsteht auch eine andere Art von Kommunikation, dann gehen Dinge schneller und dann können junge Kollegen von älteren lernen. Dass dieser Prozess selbstreferentiell oder anämisch werden kann, wenn man sich keine neuen Impulse mehr von außen holt, ist klar. Nun gibt es aber in jedem Stadttheater immer Fluktuation, gibt es Schauspieler, die an andere Häuser abgehen, gibt es neue Regisseure, neue Oberspielleiter etc. Also auch hier gibt es viele unterschiedliche Regiehandschriften zu besichtigen. Und dort, wo Leute aus der freien Szene etwas Wesentliches machen, halten wir natürlich stets unsere Augen und Ohren offen. Und so kommen sie dann irgendwann auch in den größeren, durchfinanzierten Betrieben an.
Für mich ist Stadttheater – ein Begriff, der manchmal von Kritikern negativ intoniert gebraucht wird – ein ganz positiver Begriff. Ich glaube, er bedeutet nichts anderes, als dass man für eine Stadt gutes Theater macht und sich dadurch auch in der Stadt verankert. Wiedererkennbarkeiten entstehen, Leute gehen in eine Vorstellung, weil sie wissen, da spielt beispielsweise diese eine Schauspielerin mit, von der man weiß, dass sie ihrem Beruf herzhaft und intelligent nachgeht. Dann will man sie wieder sehen, wie sie diese oder jene Rolle gestaltet oder will sie gar mehrfach in derselben Rolle sehen. Daher ist für mich die Leistung und Wertschätzung des Repertoirebetriebs auch so wichtig.
Ich halte das deutsche Stadttheatersystem für etwas überaus Gutes, Wesentliches und der Verteidigung Wertes. Seit nun 28 Jahren stehe ich dafür und solange ich kann, werde ich darum kämpfen, dass es weiterbesteht. Dass im Übrigen auch das Staatstheater Kassel ein Ort des Experiments ist und dass wir uns auch immer wieder junge Regisseure ins Haus holen, zeigt sich gerade durch „Tyrannis“ von Ersan Mondtag, das zum Theatertreffen eingeladen war.
Da er uns schon durch das Gespräch begleitet, soll auch meine abschließende Frage Beckett gelten: Im Laufe Ihrer Karriere inszenierten Sie zwei Mal „Warten auf Godot“, zwei Mal „Glückliche Tage“, zu Jubiläen von Becketts Geburts- und Todestagen gestalten Sie Lesungen: Was verbindet Sie mit Beckett?
Dieses Prinzip des Besser-Scheiterns, wenn sich im „Godot“ Estragon wieder aufhängen will und sagt: „Didi, ich kann nicht mehr so weiter machen“ und Wladimir ganz tröstlich und lakonisch entgegnet: „Das sagt man so.“ Auch dieses Immer-Weitergehen, wenn Wladimir sagt: „Nun wird es aber wirklich sinnlos.“ und Estragon erwidert: „Noch nicht genug.“ Zu dem Gedanken des Durch-etwas-hindurch-Gehens gibt es bei Beckett eine Schlüsselstelle im letzten Band: Da beschreibt er, wie er am Ende einer Mole sturmumtost dasteht und ihm plötzlich alles klar wird: „Die Erleuchtung endlich … dass das Dunkel … mit dem ich immer gekämpft hatte, um es zu bezwingen, in Wirklichkeit mein Bestes“ ist. Die wichtigsten Sachen gibt es nicht umsonst, das ist in fast allen großen Theatertexten und -arbeiten so. Und Beckett ist in extremster, radikalster Weise, auch in einer überhaupt nicht taktischen Weise durch etwas durchgegangen.
Vor diesem Hintergrund kann man vielleicht auch Becketts Affinität besonders zu Beethovens Siebter verstehen. Er schrieb einmal von seiner Begeisterung über die von „großen schwarzen Pausen gefressenen Tonfläche“ in dieser Komposition. Die Negation, die für uns die (Ordnung der) Phänomene ermöglicht, zugleich aber auch die Problematik der Ich-Findung gebiert.
… Ja, und natürlich ist hier – wie im Theater generell – auch das Thema Sterblichkeit ein ganz wichtiges, das uns alle gleich macht. Es gibt eine Anekdote von Seneca, dem Lehrer von Nero. Nero nötigt Seneca schließlich zum Selbstmord und dieser gibt Nero noch einen letzten Satz mit auf den Weg: „Du kannst noch so viele Leute umbringen, es wird dir nicht gelingen, deinen Nachfolger zu töten.“ Und da Sie jetzt lächeln, würde ich abschließend noch die Wichtigkeit der Komik bei Beckett wie im Theater insgesamt unterstreichen. Das Lachen, das manchmal mit Erkenntnis verbunden ist, wie bei Chaplin, wo man nicht nur lacht, weil irgendetwas kaputt geht oder jemand eine Torte in die Gesicht kriegt – (Pause). Goldoni hat mal gesagt: „Der größte Komiker ist der Tod.“
Herr Bockelmann, ich danke Ihnen für das Gespräch.